„Du musst deine Augen schließen, sonst siehst du gar nichts.“ Mit diesen Worten beginnt Jan Švankmajers Film „Alice“ aus dem Jahr 1988. Der für seine skurrilen Animationsfilme bekannte Filmemacher, der noch so unbelebte Alltagsobjekte auf virtuose und verstörende Weise zum Leben erweckt, liefert mit seiner freien Adaption des Kinderbuchklassikers Alice im Wunderland indirekt auch die Arbeitshypothese der surrealistischen Kunst: der menschliche Erfahrungsbereich geht weit über die unmittelbare Wahrnehmung und die Grenzen des menschlichen Verstandes hinaus, er schließt das Unwirkliche, das Traumhafte und Unterbewusste mit ein.
Besonders ist an den tschechischen Surrealistengruppen um Karel Teige und Vlatislav Effenberger, dass der Künstlerbewegung durch den politischen Terror und die Zensur der Nachkriegsjahre auch eine gegenrevolutionäre Funktion zukam, während die Bewegung in Paris etwas an Fahrt verlor. Dass auch die Ausstellung „Surrealistische Ausgangspunkte (1948 – 1989) – Aufbrüche, Kehrtwenden, Überschneidungen“, die zur Zeit im Museum der Tschechischen Literatur, im historischen Hvězda-Sommerpalast (Letohradek Hvězda) im Tiergarten des Prager Stadtteil Liboc zu sehen ist, die Schaffensphase der Surrealisten zu Zeiten des sozialistischen Regimes beleuchtet, ist daher von großer Bedeutung, da es besonders die Nachkriegs- und nicht allein die 1930er Jahre waren, die dem tschechischen Surrealismus sein Alleinstellungsmerkmal gaben.
Fliegende Brüste und innerer Widerstand
Das Programm der tschechischen Surrealisten kann zwar auch unabhängig von den Beschränkungen konkreter politischer Doktrinen verstanden werden, da es sich schon gegen das Normalverständnis von Realität und eine rein rationale Interpretation von Welt richtet. Zugleich aber geben Werke wie Václav Tikals „Rabbi Löw – Denkmal der zu Tode Gefolteren“ nicht nur Einblicke in tieferliegende Befindlichkeiten und Ängste, sondern zeugen von einer in dieser Kunstrichtung häufig anzutreffenden, impliziten moralischen Haltung, die auch Josef Istlers Skulptur „Fisch voller Zähne“ kennzeichnet. Istlers stählerne Skulptur, die einen gestrandeten Fisch mit nach innen gerichteten Zacken zeigt, kann als Ausdruck einer inverten Phänomenologie gelesen werden, die sich mit den Selbstzerfleischungstendenzen des unterdrückten Individuums beschäftigt.
Als stilbildend für die surrealistische Bearbeitung erotischer Motive können zudem die Fotocollagen Karel Teiges und Albert Marenčin gelten. In Traumlandschaften schweben vom Körper abgelöste weibliche Rundungen. Rätselnd steht man vor Schwarz-Weiß-Kompositionen, deren mehr oder weniger uneindeutige Objektbeziehungen und Magie sich langsam vor dem inneren Auge entfalten. Psychoanalytisch beobachtet, sieht man, dass hier nicht nur unterdrückte politische, sondern auch erotische Phantasien, einen künsterlischen Ausdruck gefunden haben.
Besonders die Aktivitäten der Gruppe UDS, zu dessen Mitgliedern auch der Kurator der Ausstellung, Stanislav Dvorský zählte, bildeten in den Vorwehen des Prager Frühlings eine wichtige Gruppe des intellektuellen und künsterlischen Widerstands. Mit der Ausstellung „Symbole des Monströsen“ wandten sich Künstler wie Alois Nožička, Věra Linhartová und Jaroslav Hrstka erstmals an eine breitere Öffentlichkeit, verbanden sich mit der nach Andre Brétons Tod neugegründeten Pariser Surrealistengruppe und organisierten im Frühling des Jahres 1968 eine dreiteilige internationale Ausstellung surrealistischer Kunst in Prag, Brünn und Pressburg.
Sämtliche Informationen der Ausstellung sind in tschechischer Sprache.
Hvězda Sommerpalast
Orbora Hvězda, Prag 6 (Liboc), geöffnet: 10 bis 18 Uhr (außer montags), ab Oktober 10 bis 17 Uhr, Eintritt: 90 Kronen (ermäßigter Eintritt 45 Kronen), www.pamatniknarodnihopisemnictvi.cz, bis 30. Oktober 2011