„Unbedingte Wahrheiten gibt es nicht“ // Warum Rudolf Steiners Werk (nichts) an Aktualität eingebüßt hat

Noch bis zum 12. September zeigt das DOX – Zentrum für zeitgenössische Kunst eine Ausstellung mit dem Arbeitstitel „Rudolf Steiner und die zeitgenössische Kunst“. Die in Kooperation mit dem Kunstmuseum Wolfsburg und Stuttgart organisierte Ausstellung beruht zum einen auf der Feststellung, dass der mit Disziplingrenzen nur schwer zu fassende Philosoph, Architekt, Soziologe, Humanist, Visionär und Anthroposoph Rudolf Steiner auch ein wichtiger Ideengeber für zahlreiche zeitgenössische Künstler war – und immer noch ist. Jedoch veranschaulicht die Ausstellung anhand von Skizzenbüchern und Tafelskizzen zwar eindrücklich Steiners künstlerisch-wissenschaftliche Methode und seinen Einfluss auf die zeitgenössische Kunst. Offen bleibt jedoch die Frage, warum der lange Zeit als Esoteriker und Mystiker verschmähte Anthroposoph und Begründer der Waldorfschulen nun eine so umfassende Rehabilitierung erfährt.

150 Jahre Rudolf Steiner

Eine Antwort liefert das Datum – schließlich ist die Werkschau in der Prager Kunsthalle nur eine von vielen Veranstaltungen im Steiner-Jahr 2011. Exakt vor 100 Jahren legte Steiner, der im März diesen Jahres 150 Jahre alt geworden wäre, mit seiner Prager Vorlesungsreihe über „Okkulte Physiologie“ den Grundstein für eine Heilkunst, die sich heute als Ergänzung zur Schulmedizin versteht, die die Einheit von Körper und Geist betont und Geld mit dem Verkauf homoöpathischer Mittel verdient.

Betreiben Ärzte offiziell anthroposophische Medizin, so verordnen diese ihren Patienten in der Regel homöopathische Lösungen, deren pharmakologische Wirkung mit naturwissenschaftlichen Mitteln nur schwer zu messen ist. Und auch in der anthroposophischen Landwirtschaft ist eine gewisse Offenheit gegenüber der vierten Dimension von Vorteil: Wollen Landwirte Ackerland nach biologisch-dynamischen Kriterien bewirtschaften, so müssen diese sich nicht nur an die Mondphasen halten, sondern ihren Böden besondere Präparate zukommen lassen.

Das Zauberwort für die Zubereitung homoöpathischer Präparate lautet Potenzierung. Hierbei handelt es sich um ein Verfahren, bei dem der Ausgangsstoff stark mit Wasser verdünnt wird – eine Methode, die, bezogen auf das Beispiel Landwirtschaft, gleich zwei Probleme löst. Zum einen lassen sich trotz der nur wenige Milliliter fassenden Arzneifläschchen gleich mehrere Hektar Land beträufeln, zum anderen wird die unangenehme Frage der messbaren Wirkung hinfällig, denn bei entsprechender Verdünnung sind die Ausgangsstoffe häufig auch nicht mehr nachweisbar. Hokuspokus nennt man dies im Volksmund.

Zu einfach wäre es jedoch, zu behaupten, dass derartige Praktiken grundsätzlich ohne Wirkung seien. Aus der Placebo-Forschung weiss man, dass schon die Praxis der Einnahme eine heilende Wirkung haben kann. In Gesellschaften, in denen ein wissenschaftlich-rationales Selbstverständnis dominiert, sorgen solche Beobachtungen jedoch vor allem – und zum Glück für das kritische Bewusstsein – für Irritation. Dinge und Phänomene analysieren und rational erklären zu können, und Wirkungen auf bestimmte Ursachen zurückführen zu können, gehört unverzichtbar zum Selbstbild moderner Gesellschaften dazu – auch wenn viele unserer Praktiken ebenso durchzogen sind von Mythen, Ritualen und Glaubensangelegenheiten, die erst durch Brechungen des Intellekts als solche hervortreten.

Hokuspokus und erweiterter Kunstbegriff

Steiners universelle Weltanschauung, die sich besonders mit den natürlichen Lebensgrundlagen und dem Verhältnis von Geist und Materie befasst, hebt besonders auf die spirituelle und soziale Bedeutung der Künste und der Kunsterziehung ab. Joseph Beuys hat, als bekennender Anhänger der Steiner’schen Kosmologie, für einen erweiterten Kunstbegriff plädiert und den Begriff der sozialen Plastik geprägt. Auch die Gesellschaft wird bei ihm zu einem Kunstwerk, das von den kreativen Handlungen der Gesellschaftsmitglieder positiv mitgeprägt werden kann. Diesem und Steiners Ansatz der anthroposophischen Kunstpädagogik verdankt sich nicht zuletzt auch die Existenz der in Tabor ansässigen Akademie der sozialen Kunst.

Die Rolle des modernen Schamanen übernehmend, schreckte Beuys auch nicht davor zurück, sich künstlerisch auf Figuren der germanischen Mythologie beziehen, so zum Beispiel auf Freya, die nordgermanische Göttin der Liebe und Ehe. Angesichts des mythologischen und rhetorischen Programms der Nationalsozialisten, sorgen solche Bezüge, auch wenn diese unter gänzlich veränderten Vorzeichen zu verstehen sind, immer noch für Unbehagen. Auch Steiners Anthroposophie, die zu Zeiten des Nationalsozialismus verboten war, basiert auf einer eigens erdachten Mythologie, die der anthroposophischen Praxis als quasi zeitloser Bezugsrahmen dient. Diese Perspektive, die sich eher am langsamen Fortschreiten der Erdgeschichte als an Trends und Moden der Moderne orientiert, mag auch der Grund sein, warum nicht wenige Zeitgenossen in Zeiten der vielbeschworenen Krisen Steiners interdisziplinäre Denkart  für inspirierend halten – und nicht zuletzt für hilfreich bei der Suche nach spiritueller Bedeutung.

Was die verschiedenen diesjährigen Veranstaltungen zu Ehren Rudolf Steiners tatsächlich rehabilitieren, ist jedoch weniger die Person und das Werk Steiner, als vielmehr die Idee der Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt, zwischen Körper und Geist. Dieses Bewusstsein kann helfen die Aufmerksamkeit auf die einfachen Zutaten eines guten Lebens zu lenken.

Die morgentliche Meditation über Herkunft und Zusammensetzung des Frühstücksbrots zum Beispiel erfordert zwar Zeit und Interesse – Ressourcen, die üblicherweise knapp sind –, sie kann aber auch zu der profanen und zugleich erhellenden Einsicht führen, dass die Dinge des täglichen Gebrauchs nicht einfach, wie von Zauberhand, da sind, sondern von Menschen und Maschinen unter mehr oder weniger vernünftigen slash nachhaltigeren Bedingungen hergestellt werden.

Im Vergleich zu den ironischen Spielarten der Moderne wirken solche Überlegungen zwar etwas schlicht und wie die von Steiner angeregte Tanzkunst der Eurythmie auch etwas naiv. Dass es für die Orientierung eines verantwortbaren Lebenstils nicht unbedingt eines Dogmas bedarf, davon zeugt auch Rudolf Steiners eigene Aussage aus dem Jahr 1899: „Unbedingte Wahrheiten gibt es nicht.“

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